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Angelo – ein Text über Sex im Alter von Paul Pfeffer

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Heimlich habe ich ihn immer Angelo genannt. Mein Engel. Aber nicht laut. Er wusste nichts davon. Sonst wäre er womöglich noch übermütig geworden. War er sowieso schon. Übermütig und den Kopf voll Unsinn. Wie ein kleiner Junge.

Ich bin jetzt vierundsiebzig und er war ein oder zwei Jahre älter, glaube ich. Genau weiß ich es nicht, er hat mir sein wirkliches Alter nie verraten. Ach, weißt du, Lore, hat er gesagt, in unserem Alter ist es doch egal, ob ich fünfundsiebzig oder siebenundsiebzig bin. Lore hat er mich genannt. Eigentlich heiße ich Eleonore, aber ich habe den Namen nie gemocht. Zu umständlich. Er hat mich sofort Lore genannt. Wie mein Vater. Ich war schon deswegen sofort hin und weg. Tauchte hier einfach auf in diesem Altersheim – sie haben es „Seniorenresidenz Cäcilienhof“ genannt, damit es nach was klingt und damit sie einen Grund für die Wucherpreise haben – tauchte also hier auf und wirbelte alles durcheinander. Das war vor ziemlich genau zwei Jahren, wenn ich mich recht entsinne.

Er hat wirklich Leben in die Bude gebracht. Allein schon wie er zum ersten Mal im Speisesaal erschien! Blieb erst mal in der Tür stehen, bis die meisten ihn gesehen hatten. Dann schlenderte er ganz langsam zu Tisch vier – das ist unser Tisch, wo ein Platz frei geworden war, weil Justine von uns gegangen ist – schlenderte also langsam her, machte eine knappe Verbeugung und setzte sich. Der ganze Saal war still.

Sogar die Bruckner von Tisch sieben, die normalerweise ständig quasselt, hielt mal für eine Minute die Luft an. Ich habe mich später gefragt, wie er das gemacht hat. Er ist nicht sehr auffallend, nicht besonders groß, nicht einmal besonders gut aussehend. Es muss die Ausstrahlung gewesen sein, irgendwas, was ich nicht beschreiben kann. Aber jeder im Raum hat es gespürt. Alfred war schon etwas Besonderes.
Mir hat er sofort gefallen. Vielleicht war es sogar Liebe auf den ersten Blick. Als er mich angeschaut hat, bin ich jedenfalls rot geworden wie ein Schulmädchen. Er stellte sich kurz vor, Alfred Rademacher, und dann saß er neben mir auf Justines Platz und sagte erst mal gar nichts. Schaute sich nur um mit seinen grauen Augen. Und gelächelt hat er, aber so, dass man es kaum gemerkt hat. So ein Lächeln um die Mundwinkel. Alle sahen ihn an. Und dann sagte er, na, dann wollen wir mal, schnappte sich den Schöpflöffel und fing in aller Seelenruhe an, die Suppe zu verteilen.

Er hatte so eine Art, wo ich nicht widerstehen konnte. Er wirkte immer lebendig. Dabei war er herzkrank, er wusste, dass er nicht mehr lange zu leben hatte. Lore, hat er zu mir gesagt, bald bin ich unter der Erde. Aber vorher wollen wir noch mal zeigen, dass es ein Schweben vor dem Tod gibt. Schweben vor dem Tod. Solche Sachen hat er gesagt.

Er war ein Schmuser. Er konnte küssen wie… dafür gibt es keine Worte. Und er wusste genau, wo ich angefasst werden wollte. Wir haben auch miteinander geschlafen, vielleicht drei- oder viermal auf seinem Zimmer. Natürlich vorsichtig wegen seiner Herzgeschichte. Er hat mich verführt und ich habe mich verführen lassen.

Ich habe eigentlich nicht gedacht, dass mir das im Leben noch einmal passieren würde, die Liebe meine ich, mit all dem Drum und Dran. Aber es war so. Alfred hat mich zum Schweben gebracht. Und dafür bin ich ihm dankbar. Da hätte sich mein Jürgen eine Scheibe abscheiden können. Alfred hatte im kleinen Finger mehr Erotik als der in seinem ganzen dicken Bauch. Na ja, Jürgen ist jetzt schon fast zehn Jahre tot und ich will nichts Böses über ihn sagen. Ich war auch nicht so ganz einfach damals. Vorbei ist vorbei.

Ich wusste übrigens, dass ich nicht die Einzige war. Hier bleibt ja auch nichts geheim. Wer von uns konnte Alfred schon widerstehen? Nicht mal die Männer konnten das. Und er hatte Geschmack, das muss ich ihm lassen. Die kleine brünette Frau Sievering aus dem Seitentrakt und meine Freundin Ruth, die hätte ich mir auch ausgesucht. Er hatte so seine Art, das zu kommentieren. Richtig frivol konnte er manchmal sein.

Und jeder Falte wohnt ein Zauber inne, hat er gesagt und mich dabei gestreichelt. Mir hat das gefallen. Ich musste einfach lachen. Hin und wieder hat er statt Falte auch Spalte gesagt und mich gekitzelt. Überhaupt hat er es immer geschafft, mich zum Lachen zu bringen. Ich glaube, er hat mir im letzten Jahr die Antidepressiva ersetzt. Ich brauchte keine mehr.

Der junge Dr. Brandt von der Inneren hat es sofort gemerkt. Na, Frau Ehlers, verliebt? Ich wurde rot und konnte nur nicken. Das ist die beste Medizin, hat er gesagt und gelächelt. Und das stimmte wirklich. Alfred war die beste Medizin für mich.

Wie er Klavier gespielt hat zum Beispiel. Er brauchte keine Noten. Er setzte sich an den alten Flügel im Musikzimmer und spielte. Ich kann nichts dafür, die Musik fließt so aus mir raus, hat er gesagt. Beim ersten Mal war es so wie ganz zu Anfang im Speisesaal. Alle wurden still und hörten zu. Obwohl er nur so Hintergrundmusik machte und ganz leise vor sich hin spielte.

Später hat er kleine Konzerte nur für mich gegeben. Zum Beispiel „Love me tender“ von Elvis oder mein Lieblingsstück „As tears go by“ von den Rolling Stones. Ich mag mehr die langsamen Sachen. Die Lieder hat er immer in Vor- und Nachspiele verpackt. So ein Stück klang dann wie eine ganze Sinfonie. Überhaupt ist mir aufgefallen, dass er Musik machte, wie er liebte. Orchestral. Ein besseres Wort fällt mir nicht ein.
Und dann war es schließlich so weit. Letzten Mittwoch kam er nicht zum Frühstück herunter.

Sie schauten nach und fanden ihn tot vor dem Bett. Herzversagen. Er hatte sich fertig angezogen und wollte wohl gerade zum Frühstück kommen. Eines Tages möchte ich einfach tot umfallen, hatte er gesagt, kurz und schmerzlos, dann ist es vorbei. Und er hatte nicht traurig dabei ausgesehen. Jetzt war er so gestorben, wie er es sich gewünscht hatte.

Eine Woche ist seit Alfreds Tod vergangen. Ich weiß nicht, ob ich traurig sein soll. Er hätte es jedenfalls nicht gewollt, dass ich Trübsal blase. Das Leben spielt sich im Kopf ab, Lore, hat er immer gesagt, und solange der noch funktioniert, sollst du ihn benutzen, also lebe!
Nein, ich bin nicht traurig.

Ruth weint den ganzen Tag und die kleine Sievering geht in Schwarz. Gestern Abend beim Rommee haben wir uns ausgesprochen. Alfreds Witwen, habe ich gesagt, und sogar Ruth hat ein bisschen gelächelt.
In den letzten Tagen sitze ich oft im Musikzimmer bis spät in die Nacht, mache die Augen zu und stelle mir vor, dass Alfred für mich spielt. As tears go by. Ich weine nicht, aber er fehlt mir sehr. Angelo, mein Engel!

Paul Pfeffer ist Autor und lebt in Kelkheim. Er schreibt seit 1992 Gedichte, Geschichten, Romane und Essays und wurde 2006 mit dem Kulturpreis der Stadt Kelkheim ausgezeichnet. „Angelo“ ist seine Idealvorstellung davon, wie es einmal zuende gehen soll.

Text: Paul Pfeffer

Titelfoto: Aaron Tsuru (c)Tsurufoto.com

Der Beitrag Angelo – ein Text über Sex im Alter von Paul Pfeffer erschien zuerst auf Lvstprinzip.


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