
„Hauptsach´in der Mitten stimmt´s!“ sagt man da, wo ich herkomme und dass das auch in diesem Zusammenhang wahr ist, findet Dagmar Cassiers, Paartherapeutin und (Sex-)Coach aus Berlin. Mit ihrem Buch „Sex-Pass: Sexuelle Passgenauigkeit mit 423 Fragen zum sexuellen Profil“ können Paare ausloten, wie gut es, naja, in der Mitte eben stimmt. Was das ganze mit Oben und Unten und dem ganzen Rest zu tun hat, erzählt sie uns im Interview.
Wozu braucht die Welt einen Sex-Pass?
In meiner Tätigkeit als Paartherapeutin komme ich regelmäßig mit Menschen in Kontakt, die trotz viel guten Willens einfach keine echte Befriedigung miteinander erleben. Es gibt nicht den guten oder den schlechten Sex per se. Aber Partner lassen sich viel zu oft auf eine Sexualität ein, die sich an vermeintlichen, klischeehaften Standards oder überwiegend an den sexuellen Erwartungen des Partners orientiert. Sie erbringen fremdbestimmte Anpassungsleistungen und vernachlässigen dabei die eigenen sexuellen Wünsche und Bedürfnisse. Dabei hat jeder Mensch seinen persönlichen sexuellen Fingerabdruck – der sagt aus, welche Sexualität zu mir gehört, welche Praktiken must-haves sind und wie oft ich z.B. Sex möchte.
Wenn die eigenen sexuellen Bedürfnisse nicht gelebt werden können, ist das ein perfekter Nährboden für ausgesprochene und unausgesprochene Konflikte und Beziehungsstress. Diese Schieflage lässt sich umschiffen, wenn Menschen sich ihre eigenen sexuellen Bedürfnisse bewusst machen und gleichzeitig akzeptieren, dass der Partner möglicherweise etwas ganz anderes will und braucht, um sexuell befriedigt zu sein.
Leider herrscht beim Thema Sex zwischen vielen Paaren große Sprachlosigkeit. Der Fragenkatalog mit den 423 Original-Fragen aus dem Sex-Pass versteht sich als Impulsgeber für so ein sexuelles Zwiegespräch, als roter Faden und hilft, die Worte zu finden, die für ein Paar bisher vielleicht unaussprechlich schienen. Das ebnet den Weg zum sexuellen Ich und zum sexuellen Du und im Idealfall zum sexuellen Wir.
Richtet sich das Buch ausschließlich an Paare? Oder soll ich als Single das nächste Mal in der Bar mein Arbeitsheft rauskramen als Icebreaker?
Mein Buch richtet sich an Singles und an Paare, an alle, die erst einmal ihre eigene Sexualität ergründen wollen, an alle, die auf Partnersuche sind, an alle, die gescheiterte Beziehungen hinter sich haben, an alle, die immer wieder an demselben Beuteschema scheitern, und an alle, die in einer Beziehung leben und mal einen Beziehungs-Check machen möchten.
Das Arbeitsheft als Icebreaker in der Bar – why not? Das ist eine witzige Vorstellung, die Idee gefällt mir. Probier es einfach und sei gespannt auf die Reaktionen.
Wäre unser Leben einfacher, wenn jeder mit so einem Sex-Pass rumlaufen würde und man sich den im Club zeigen oder im Online-Dating-Profil verlinken könnte?
Ob einfacher weiß ich nicht, aber auf alle Fälle wäre es ehrlicher, authentischer und nachhaltig glücklicher, transparenter, verbindlicher. Sexuelle Vorlieben, die ich dem/r Partner/in oder dem/r potenziellen Partner/in gegenüber verleugne oder verheimliche sind der Feind bzw. Tod jeder partnerschaftlichen Intimität. Ehrlichkeit ist King! Wenn von Anfang an mit offenen Karten gespielt wird und gesagt wird, was Sache ist, dann läuft auch eine Beziehung danach gradlinig, zumindest stehen die Chancen dafür besser. Wer will schon eine Partnerschaft mit einer geheimnisumwitterten Lüge beginnen?
Wie bist du auf die vielen Antwortmöglichkeiten gekommen? Sind dir alle diese Themen und Neigungen in der Praxis schon begegnet?
Von allem etwas: eigene Lebenserfahrung, Berufserfahrung als Therapeutin, Recherche in der Fachliteratur, intensive Beschäftigung mit aktueller Forschung auf dem Gebiet der Paar- und Sexualtherapie, sowie fachlicher Austausch mit KollegInnen. In meiner Praxis sind mir unzählige „sexuelle Fingerabdrücke“, über den Weg gelaufen, mir ist nichts Menschliches fremd.
Welche Neigung ist häufiger, als wir glauben?
Schwer zu sagen, die Palette der Neigungen ist bunt und vielfältig. Für mich gibt es keine Verallgemeinerung, Vermassung, Normierung. Was mich aktuell erstaunt hat, ist eine wissenschaftliche Studie, die besagt, dass 39 % aller Berufstätigen während der Arbeit masturbieren. Masturbation ist ja nichts Besonderes, aber die Häufigkeit am Arbeitsplatz war mir so nicht bekannt.
Warum gibt es im Buch nur Beispiele zu Sex zwischen Männern und Frauen?
Die Beispiele sind eine zufällige Auswahl aus meiner Praxis und auf viele Paar- und Beziehungs-Konstellationen übertragbar. Grundsätzlich spreche ich mit meinem Buch alle Interessierten an, völlig unabhängig von ihrer Sexualpräferenz, auch wenn ich sie nicht explizit erwähne. Ich habe mittlerweile zahlreiche positive Rückmeldungen zu meinem Buch auch von homosexuellen und bisexuellen Paaren, die sich absolut von den Kategorien und Fragen angesprochen fühlen. Es gibt keine Ausschlusskriterien für die Bearbeitung der Fragen und des Buches insgesamt. Deshalb ist aktuell kein explizit queerer „Ableger“ geplant. Aber ich schließe nichts aus, dass sich das nochmal ändert.
Wie geht’s weiter, wenn ich und mein Gegenüber unseren jeweiligen sexuellen Fingerabdruck durch Beantworten der Fragen herausgefunden haben?
Bei hoher Passgenauigkeit (green flags) kann das Paar den gemeinsamen Sex bewusst genießen und vielleicht neugierig sein, ob es noch mehr Gemeinsamkeiten zu entdecken gibt.
Bei ausreichender Passgenauigkeit (yellow flags) sollte sich beide auf die Gemeinsamkeiten fokussieren und miteinander die individuelle Kompromissbereitschaft bei kleineren, weniger gravierenden Unverträglichkeiten ausloten.
Bei gravierenden Pass-Ungenauigkeiten (red flags) kommt es darauf an, dass sich sich die Partner in ihrer Individualität gegenseitig akzeptieren und zu gemeinsamen Vereinbarungen kommen. Das kann z.B. bedeuten, dass die Sexualität einvernehmlich aus der Beziehung ausgelagert wird. Wenn die Grenzen der Kompromissbereitschaft überschritten sind, dann kann auch Trennung eine gute Lösung sein.
Gibt es auch Fälle, wo sich der sexuelle Fingerabdruck im Laufe des Lebens nochmal deutlich ändert?
Sexualität als genetisch angelegter Trieb und menschliches Grundbedürfnis ist in der Regel nur sehr bedingt und eingeschränkt modifizierbar. Sicherlich differenziert sich der sexuelle Fingerabdruck im Laufe des Lebens, in einem vorgegebenen Rahmen, noch mehr aus, durch jede positive und auch negative sexuelle Erfahrung.
Persönliche Veränderungen können partielle Anpassungen der sexuellen Bedürfnisse erforderlich machen. So verändert sich mit zunehmendem Alter z.B. der Erregungsverlauf, oder krankheitsbedingt sind bevorzugte Praktiken nicht mehr möglich. Eine hohe sexuelle Passgenauigkeit zu Beginn einer Partnerschaft erhöht die Chance, dass sich das Paar gemeinsam entwickelt und auch unter veränderten persönlichen Voraussetzungen, einen gemeinsamen sexuellen Nenner findet.
Wie merke ich, wo die Grenze beim Einlassen auf die Vorlieben des Partners erreicht ist, die ich auch dem anderen zuliebe nicht überschreiten möchte?
Da sind auf alle Fälle körperliche Reaktionen, die mir Grenzüberschreitung signalisieren. Klienten berichten von Verspannungen, Verkrampfungen, nicht richtig durchatmen können, Würgereiz, gedankliches „Wie kann ich mich entziehen?- Hamsterrad“ im Kopf. Um den ungeliebten, auf Ablehnung stoßenden Sex zu verhindern, gibt es unterschiedliche Sex-Vermeidungs-Strategien: Migräne, Kopfschmerzen, müde von einem anstrengenden Arbeitstag, Stress mit den Kindern, am nächsten Morgen früh aufstehen müssen. Als Folge dieser Vermeidungsstrategien schleichen sich entsprechend negative Gefühle auf beiden Seiten ein. Der eine fühlt sich abgelehnt, gekränkt, als abgewiesener Bittsteller, der andere fühlt sich unverstanden, bedrängt, in die Defensive, Rechtfertigung und Flucht gedrängt. Beide haben keine Chance auf Bedürfnis-Befriedigung innerhalb der Beziehung. Je nach Temperament bewegen sich die Partner zwischen Resignation, Frustration, Rückzug, innerer Kündigung, Kriegserklärung und Trennungsgedanken.
Welche Rolle spielen offene Beziehungen? Können die hier die Lösung sein?
Es gibt unterschiedliche Wege, eine offene Beziehung zu führen. Entscheidend ist, dass ein Paar sich einvernehmlich für einen Weg entscheidet. Wenn in der Beziehung Frustration, Streit, fehlende sexuelle Befriedigung an der Tagesordnung sind, dann ist es auf alle Fälle eine Option, die Sexualität aus der Beziehung auszulagern und offen für außerpartnerschaftliche Sexualität zu sein. Für viele Paare kommt eine Trennung nicht in frage, weil sie aus unterschiedlichen Gründen ihre soziale Beziehung aufrechterhalten wollen: wegen der gemeinsamen Kinder, aus wirtschaftlichen Gründen und und und….
Würdest du lieber eine Beziehung mit einem Menschen führen, der dein Seelenverwandter ist, aber sexuell komplett andere Vorlieben hat? Oder mit deinem perfekten Sex-Match, der aber eine ganz andere Persönlichkeit hat als du?
Aufgrund persönlicher und beruflicher Erfahrungen hat die sexuelle Passgenauigkeit in meinen Augen beziehungstechnisch den höheren Stellenwert. Passgenaue sexuelle Wünsche korrespondieren aus meiner Sicht häufig auch mit grundsätzlich vergleichbaren, ähnlichen Lebenseinstellungen. Es ist fantastisch, wenn es in anderen Lebensbereichen ebenfalls eine hohe Passgenauigkeit gibt. Allerdings kann ich vieles auch mit anderen Menschen teilen oder unternehmen, d.h. ich kann verschiedene soziale Beziehungen haben, während Sexualität und Intimität für mich exklusiv an einen Partner gebunden sind und eine besondere Beziehungs-Qualität darstellen. Aber das darf jedes Paar für sich entscheiden.
Neugierig geworden? Gemeinsam mit Dagmar und ihrem Verlag Tredition verlosen wir dreimal das Buch Sex-Pass! Verrate uns einfach bis 29. September 2017 hier in den Kommentaren, welchen Kompromiss du – im Leben oder im Bett – niemals wieder eingehen könntest.
Titelfoto: Aaron Tsuru (c) Tsurufoto.com
Das Interview führte Unique.
Der Beitrag Passport, please! – Ein Interview mit Paartherapeutin Dagmar Cassiers erschien zuerst auf Lvstprinzip.