
Ich kann jetzt nicht über Sex schreiben, weil die Welt dreht gerade wieder mal durch. Menschen in meiner Timeline werden „in Sicherheit“ markiert und jede Nachrichtenmeldung hat ein EIL vornedran stehen. EIL jemand gestorben, EIL bestimmt stirbt gleich noch jemand, wir halten Sie natürlich per Live-Ticker auf dem Laufenden, für ein komplett unangebrachtes Gefühl von aktiver Anteilnahme Schrägstrich Kontrolle.
Die Pokemon-Go-isierung von Amok und Terror. Und auf einmal gibt es nur noch Gewalt und Meinungen dazu. Ich will keine Meinungen mehr wissen. Manche Menschen haben eine Haltung, alle anderen eine Meinung und dann so oh, like, wirklich wichtiger Beitrag, ganz meine Meinung, das darf man in solchen Zeiten ja auch nicht außer acht lassen. Mich interessiert weder die Meinung noch der Zynismus dagegen. Mich interessiert mein Gefühl, wenn ich in der Ubahn auf einmal Gänsehaut bekomme, aber ich will es nicht formulieren, will nicht, dass aus meinem Gefühl am Ende auch noch so eine Meinung wird, die ich dann in meiner Timeline sharen müsste und somit ein Mensch mehr werde, der noch eine Meinung hat, und alle so, boah ein wirklich wahnsinnig wichtiger Gesichtspunkt, oder, also derartiger Zynismus ist im Moment wirklich vollkommen unangebracht.
Ich kann jetzt nicht über Sex schreiben, ich muss noch Pfandflaschen wegbringen. Ich bringe meine Pfandflaschen zum Kaufland und nicht zum Späti, weil mir das ethisch irgendwie korrekter vorkommt, mein vorher beim Späti zuviel bezahltes Geld vom Kaufland wieder einzufordern und mir dafür eine neue Apfelschorle zu kaufen. Deutschland: es ist kompliziert. Ich kann nicht über Sex schreiben, das hier ist gerade wirklich wichtiger.
Auf dem Weg zum Kaufland schreit mich eine verhärmte betrunkene Frau in zu engen Lederhosen an: Probiers mit Bulimie, Mädchen! Du bist zu fett! Berlin ist wirklich zu voll im Moment. Ich kann nicht über Sex schreiben, denn Berlin ist zu voll und ich bin anscheinend zu fett. Schon gut, dass einem das mal jemand sagt. Bulimie also. Probier was neues diesen Sommer und kotzen bei 29 Grad.
„Liebe Theresa, ich hoffe es geht dir mindestens so gut wie du auf deinen Fotos immer aussiehst“ steht in den Emails, die ich nicht beantworten kann weil ich über Sex schreiben sollte, dabei kann ich nicht über Sex schreiben, solange ich noch so viele Emails beantworten sollte. Das werden halt irgendwie auch immer mehr, Ihre Verbindung wird gehalten. Der Quatsch in meinem Kopf sträubt sich ostentativ gegen jegliche Verwertbarkeitslogik. Und ich nicke und lächle wenn mir diese anderen Leute von ihren AKTUELLEN PROJEKTEN ERZÄHLEN, oh klingt toll, und mein Kopf ist ein Telefonwarteschleifenjingle. Jemand sollte all diese Möglichkeiten ergreifen, Deals closen, delivern, das geile Lifestylebusiness rocken, aber dieser Jemand ist gerade nicht ich, weil die Welt durchdreht und ich anscheinend zu fett bin und außerdem schon wieder eine Pfandflasche wegbringen muss. Ja, ich weiß – Pfand gehört daneben. Hab ich aber irgendwie auch keine Meinung dazu im Moment.
Ich kann nicht über Sex schreiben, dazu müsste ich erst mal selbst welchen haben. Das gehört doch dazu, oder? Dass man als Sexblogger möglichst viel Sex hat, ein Foodblogger macht doch auch den ganzen Tag nichts anderes als zu kochen. Ich kann nicht über Sex schreiben, denn dazu muss ich schließlich erst mal Sex haben. Recherchephase und so. Gesagt getan, und ich zucke kurz zusammen, als ich merke, dass es mir währenddessen egal ist, denn so geht das ja wirklich nicht, wo kommen wir denn da bitte hin wenn selbst Sexbloggern ihr eigener Sex schon egal ist? Auch dazu möchte ich eigentlich lieber keine Meinung haben.
So kann ich wirklich nicht über Sex schreiben, wenn mir Sex egal ist, also habe ich noch mal Sex. Und der fühlt sich an, wie das erste Mal Asien, als alle um mich rum an einer Zipline durch den Dschungel trekken, auf einem Autoreifen den Fluss runterschwimmen, sich mit Leuchtfarbe anmalen und Drogen nehmen und auf einem Elefanten reiten obwohl der geschlagen wird dafür. Und ich einfach mit einem Mangosmoothie in der Hand im Halbschatten sitze und gar nichts muss, außer die Gewissheit zu haben, dass ich mir gerade Zeit lassen kann, weil ich ja sowieso bald wiederkomme. Mir erlaube, die Poesie zu fühlen anstatt sie lediglich abzuarbeiten. Und mich fallen lasse ohne ein scheiß Bungeejumpingseil.
Springen macht Spaß bis zum Aufprall. Ich kann nicht über Sex schreiben, denn jetzt habe ich Liebeskummer. Wer alles loslässt, hat beide Hände frei und die würde ich gern in deinem Nackenfell vergraben aber dein Hund hat meine Visitenkarte gefressen und ich erlaube mir keine Meinung zu diesem Thema. EIL: Mann ruft nicht zurück, Gefühle da. Theresa Lachner wurde während des Zynismus als: In Sicherheit markiert. Ich geh zur Feier des Tages mal Pfand wegbringen und kotzen. Bitte bewahren Sie Ruhe, die Emails beantworte ich übermorgen.
Headerphoto: Aaron Tsuru (c) Tsurufoto.com
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