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In den Jugendjahren geht vieles noch von allein: Wir sind wild, wir sind verwirrt, manche von uns sind sehr oft geil, andere können mit dem ganzen Sexding lange nichts anfangen oder wollen nicht, weil sie lieber warten, bis sie der Sache auf den Grund gehen und in der Praxis mit anderen Menschen anwenden, was sie nun als neue Superkraft haben. Das ist alles völlig normal und sehr verschieden ausgeprägt. Es gibt in Sachen Sex unterschiedliche Empfindsamkeiten. Erregbar mögen wir fast alle sein, aber viele Faktoren in unserer Sozialisation, Erziehung, Kultur und in unserem Wesen können sich auf unser sexuelles Verlangen auswirken – ein Leben lang.
Emily Nagoski hat vielleicht am besten ausgedrückt, was uns zu dem Erotikwesen macht, das wir sind: Dazu gehören sehr unterschiedliche Ausstattungen im Genitalbereich und körperliche Verschiedenheiten genauso wie unterschiedliche Persönlichkeitsausprägungen. Da sind auf der einen Seite Penisse, Labien, Vulven, Hoden, Brüste, Kitzler und vieles mehr, das irre unterschiedlich und sehr speziell ausgeprägt sein kann. Nagoskis einfacher Satz zu diesen Teilen unserer körperlichen Ausstattung lautet: Es ist alles normal! Wir sind alle normal – auch wenn wir aufgrund verschiedener »Analysen«, wie Vergleichen mit Porno-Darstellern oder Freunden oder Geschwistern, Darstellungen in Büchern oder auf Fotos im Internet, sehr oft zu dem Schluss kommen mögen, dass etwas an uns zu groß, zu klein, zu dunkel, zu prominent oder schlicht an der »falschen« Stelle sei.
Nein, es gibt kein »richtig« oder »falsch« – wir sind grundsätzlich alle sehr ähnlich angelegt, aber die individuelle Ausprägung ist so verschieden, wie es auch Körpergröße, Lippenformen, Augenfarbe, Schulterbreite oder Hautfarbe sind. Wir sind wir, und auch wenn es durch die Medien und sehr konkrete Schönheitsideale sowie -moden so aussehen mag, als gebe es ein »richtig« oder »falsch«, und wir mit unseren Körpern deswegen hadern – es ist unnötig und es führt zu nichts, außer zu Frust, Scham und am Ende einem sexuell unglücklichen Leben. Das wäre doch zu schade!
Genauso ist das mit unserem Kopf: Wir sind verschieden impulsiv und unterschiedlich empfindlich. Nagoski schlägt ein duales Modell der sexuellen Erregbarkeit vor. Man muss sich das so vorstellen, dass in unserem Kopf einerseits ein »sexuelles Gaspedal« sitzt und andererseits eine »Bremse«. Beide reagieren – genau wie Gaspedal und Bremse im Auto benutzt werden – je nach Situation und Kontext. Der Kontext, also was gerade in unserem Leben passiert, wie wir uns mit uns selbst und den anderen Menschen fühlen, ist entscheidend für alles.
Aber auch, wie schnell unser Gaspedal reagiert: Ein alter VW-Bus braucht etwas, um zu beschleunigen, wohingegen der schicke neue BMW zum Rasen nur so verführt. So manches Auto hat Bremsen, die nicht gerade empfindlich reagieren – da muss man schon ordentlich mit dem Fuß draufstampfen! Andere Autos reagieren schon bei kleinstem Tapsen hochempfindlich, und man steht fast, während man doch eigentlich nur ein wenig langsamer fahren wollte.
Was Nagoski beobachtet hat, erklärt auch, warum 90 Prozent aller Sexratgeber zum Scheitern verurteilt sind: Ratgeber für Frauen mit »schwacher Libido«, Ratgeber, die ihm erklären, wie er »sie wahnsinnig machen kann im Bett«, sogar tantrische Ratgeber – ich habe wirklich vieles ausprobiert, aber nie habe ich mich in den beschriebenen Tipps und Techniken wirklich wiedergefunden. Sie gingen oft seltsam an mir, meiner Realität und meinen Problemen vorbei.
Bei mir persönlich ist es so, dass sowohl meine »Bremsen« als auch mein »Gaspedal« sehr empfindlich reagieren. Vermutlich hängt es damit zusammen, dass ich auch sonst als »hochsensibel« durchgehe, eine Persönlichkeitsausprägung, die wirklich anstrengend sein kann. So war ich zwar einerseits immer gut erregbar, und ich hatte auch eine Menge Spaß an Sex, aber kleinste Unstimmigkeiten konnten alles sofort im Keim ersticken.
Ein falsches Wort, zu viel Stress auf der Arbeit, Druck, Enttäuschungen in der Partnerschaft oder ein Geruch, den ich nicht mag. Ich bin sexuell hochselektiv – wenn ich Sex haben will, muss zunächst einmal eine Menge stimmen, sonst geht es auf die Bremse. Meine Anforderungen sind dergestalt groß, dass Abweichungen von meiner Präferenz ein Stoppsignal bedeuten. Und sei es nur, dass ich einmal beim Sex nicht zu 100 Prozent das Gefühl habe, auch wirklich gemeint zu sein.
Wir merken schon, es ist kompliziert.
Aus vielen solchen Erfahrungen und Situationen schloss ich, dass ich vielleicht asexuell sein könnte. Oder frigide. Aber so war es nicht. Das jugendliche Ich, das sehr viel Lust auf Sex hatte und sehr viel Spaß daran, und das jetzige erwachsene Ich, das waren ja nicht zwei verschiedene Wesen. Ich war ich. Aber etwas anderes stimmte nicht. Nur begann ich mir einzubilden, dass ich nicht stimmen würde.
Erst durch Nagoskis Test fand ich heraus, dass auch mein Gaspedal total empfindlich eingestellt ist! Von wegen frigide!
Wenn der Geruch passt, wenn ich das Gesicht sehe, das ich liebe, wenn ich merke, begehrt zu werden und richtig angefasst – all diese Dinge bringen mich extrem schnell zur Lust. Aber ein falscher Kuss: Zack, vorbei.
Sein sexuelles Wesen zu kennen ist unfassbar wichtig, um Probleme sexueller Art lösen zu können. Wer sich nicht kennt, lässt sich leichter Dinge über sich einreden, die nicht zwangsläufig stimmen. In zwischenmenschlichen Beziehungen kann das überaus brenzlig enden: In Konflikten haben wir alle die Tendenz, Schuld und Verantwortung erst einmal von uns zu weisen, machen wir uns nichts vor. Das ist menschlich und dient dem Schutz unserer Seelen. Wir suchen besonders gerne beim anderen nach Fehlern – bei uns finden wir das meistens nicht so gut. Und schnell sind vermeintliche Fehler gefunden und ausgesprochen. Tatsächlich sind viele solcher Diagnosen eher geraten oder vermutet, und oft hat man dabei auch ein Eigeninteresse: Man will es sich leichtmachen.
Dem anderen zum Beispiel zu sagen: »Dass du so wenig mit mir schläfst, sagt mir, dass du mich ablehnst, und das ist verletzend. Wenn du mich nicht verletzen willst, dann schlaf mit mir!« – das kann beim anderen enorme Schuldgefühle auslösen. Andere Faktoren, die dazu führen können, auf die Bremse zu treten, können sein: ein schlechtes Selbstbild (zu dick, zu dünn, zu faltig – was auch immer), ein unausgesprochener oder ungelöster Konflikt, bei Frauen: die Angst, schwanger zu werden, wenn er sich weigert, ein Kondom zu nehmen, das blöde Telefonat mit der Familie gestern Abend, eine ungerechte Aufteilung von gemeinsamen Aufgaben im Haushalt und in der Kindererziehung – es gibt unendlich viele Gründe.
Jetzt könnte man meinen, ein empfindliches Gaspedal sei vielleicht viel besser als eine empfindliche Bremse – weit gefehlt! Gerade Frauen mit starker sexueller Appetenz bekommen schnell den Stempel »Schlampe« aufgedrückt. Das verbreitete Modell der monogamen Zweierbeziehung kann sich als schwierig erweisen. Wer schneller Gas gibt, tut dies eventuell nicht nur bei seinem Partner. Und das kann empfindliche Konflikte nach sich ziehen, weswegen manche Menschen mit starkem sexuellen »Gaspedal« sich lieber nicht in feste Zweierbeziehungen begeben, da sie andere nicht verletzen wollen.
Das kann eine auf den ersten Blick weise und rücksichtsvolle Entscheidung sein – es bedeutet aber auch, dass Menschen alleine durchs Leben gehen, die vielleicht lieber jemanden an ihrer Seite hätten, dem sie vertrauen, der da ist, den sie lieben. Wir sehen: Viele Irrtümer und mögliche Verletzungen gehen sowohl mit starken Bremsen als auch mit starkem Gaspedal einher. Natürlich gilt das auch für schwache Bremsen und schwache Gaspedale. Die meisten Menschen liegen wohl irgendwo in der Mitte – aber alles ganz normal. Man muss sich nur ein wenig kennenlernen und akzeptieren, dann findet man für alles andere auch Lösungen.
Wirklich! Diese innere seelische Erkenntnis ist wichtig für ein psychisch gesundes, fröhliches und erfüllendes Sexleben. Lesen Sie Nagoski! Und dann kann es mit den verschiedensten Stimuli auch losgehen.
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Katrin Rönicke geb. 1982, ist Journalistin und Bloggerin. Sie schreibt vor allem zu den Themen Bildung, Geschlechterdemokratie und Emanzipation, unter anderem für Freitag, FAZ und Neon.de. Dieser Text ist ein Kapitel aus ihrem neuen Buch „Sex. 100 Seiten“, das vor kurzem im Reclam Verlag erschien.
Gemeinsam verlosen wir 3 Exemplare! Beantworte einfach in den Kommentaren bis zum 10. April die folgende Superpreisfrage: was löst bei dir Gaspedal und Handbremse aus? Teilnahme wie immer ab 18 Jahren!
Der Beitrag Gaspedal und Bremse – ein Text von Katrin Rönicke erschien zuerst auf Lvstprinzip.